Mittwoch, 26. September 2012

Europa und islamische Identitäten

Prof. Mouhanad Khorchide beim Vortrag
Das Islamseminar in Dortmund ist eine langjährige interreligiöse Initiative, an der sich Kirchen und Moscheen der Ruhrgebietsstadt intensiv beteiligen. Am 25. September ging es in der Abu-Bakr-Moschee um die Frage:
Auf dem Weg zu einer europäischen islamischen Identität?
Der Referent, Professor Dr. Mouhanad Khorchide vom Lehrstuhl für Islamische Theologie und Religionspädagogik in Münster merkte zuerst an, dass es weniger um den Islam als solchen geht, sondern um die Problematik, inwieweit sich Muslime mit Europa bzw. Deutschland als ihrer Heimat identifizieren. An seiner eigenen Biografie zwischen Palästina, Libanon, Saudi-Arabien und Österreich machte Khorchide deutlich, wie schwierig eine solche Identität mit einem Land sein kann, indem man (gerade) lebt. Für die meisten  in Deutschland aufgewachsenen Jugendlichen mit islamischen Hintergrund ist z.B. die Türkei nicht mehr ihre Heimat. In der Türkei sind sie Fremde - "Deutschländer". Die Hauptschwierigkeit allerdings besteht für Minderheiten darin, sich mit einem Land zu identifizieren in dem man nicht (richtig) anerkannt ist und oft genug diskrminiert wird.
So spielen hier soziologische Argumente eine wesentlich stärkere Rolle als theologische oder religiöse, insbesondere deshalb, weil die sog. Gastarbeiter-Generation aus bildungsarmen Schichten kam. Das wirkt sich auch auf die nachfolgenden in Deutschland geborenen bzw. aufgewachsenen Menschen aus. Verschärft wird diese Gemengelage durch die "Islamisierung sozialer Probleme", besonders seit dem 11. September 2001.
Theologisch gesehen spielt  die Auslegung des Korans eine wesentliche Rolle: Wird er als Wort Gottes durchgehend wörtlich genommen oder gelingt eine Differenzierung unter Berücksichtigung des jeweiligen zeitlichen und gesellschaftlichen Kontexts? Das gilt besonders angesichts des Reizwortes Scharia in der öffentlichen Debatte. Der Referent betonte, dass es hier nicht um ein anderes (islamisches) Rechtssystem geht, sondern um einen Rechtsrahmen, der eine gerechte Gesellschaft ermöglichen will und der jeweiligen Zeit angepasst werden muss. Die hinter der Scharia stehende Botschaft des Korans ist die von Gottes Barmherzigkeit. Die Herausforderung für die in Europa lebenden Muslime ist, die Botschaft von der Barmherzigkeit Gottes in die konkrete Tat umzusetzen, das heißt: aus dem Islam erwachsene humane Werte der Verantwortung für die jeweilige Gemeinschaft vorzuleben. Denn Gott wendet sich dem Menschen ohne Vorbehalte zu (vgl. Sure 55). Selbstkritisch müssen sich darum Muslime fragen:  Was ist eigentlich in der Geschichte eigener Verantwortlichkeit bis heute schief gelaufen, so dass diese koranische Botschaft innerhalb und außerhalb islamischer Gesellschaften oft gründlich missverstanden wird.

In der anschließenden lebhaften, durchaus kontroversen Diskussion war der Versuch des gegenseitigen sachgemäßen Verstehens spürbar. Mouhanad Khorchide verstärkte noch einmal seine Sicht der koranischen Botschaft im Sinne der Barmherzigkeit Gottes für alle Menschen. Damit kann der Islam gerade angesichts von Wertewandel und sozialer Umbrüche zu einer Bereicherung der heutigen  Gesellschaft werden.

Sein in Kürze erscheinendes Buch berücksichtigt dies in theologischer Verdichtung:
Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion (Herder-Verlag)

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